Besteigung des Rucu Pichincha

Im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. 
Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gestern gewesen bin. 
Ich würde weniger Dinge so ernst nehmen. 
Ich würde mehr riskieren, mir mehr Zeit nehmen Sonnenuntergänge zu betrachten, auf mehr Berge steigen, in mehr Flüssen schwimmen. 
Ich würde langsamer leben, weniger tun und mehr sein.

(Jorge Luis Borges)

Der Pichincha ist der Hausberg von Quito und ein aktiver Vulkan. Er hat zwei Gipfel, den Rucu Pichincha und den Guagua Pichincha. Der Rucu Pichincha liegt 4690 Meter über Meer und befindet wesentlich näher an der Stadt als sein etwas höherer Bruder Guagua Pichincha (4794 m. ü. M.)

Wir hatten die Möglichkeit, mit ICYE Ecuador den Rucu Pichincha zu besteigen. Wir fuhren mit der Luftseilbahn "Teleférico" auf einen Hügel auf der Ostseite des Vulkans, der auf 3950 m. ü. M liegt. Von dort aus marschierten wir auf den Krater. Zu Beginn gab es einen Wanderweg, der gut gekennzeichnet war. Der Weg war aber wahnsinnig steil, ich kann mich nicht erinnern, jemals auf einen so steilen Berg gewandert zu sein. Ich ging mit der vordersten Gruppe mit und marschierte mit der Schweizerin Xenia, dem Inder Mahim, der Deutschen Friederike und mit Renato, unserem Betreuer von ICYE Ecuador. Von Zeit zu Zeit mussten wir immer wieder anhalten und kurz verschnaufen. Mit der Zeit wurde der Abstand zwischen diesen Pausen immer geringer. Es beruhigte mich jedoch, dass auch die anderen ausser Atem gerieten.

Irgendwann nach gefühlten drei Stunden war es vorbei mit dem Wanderweg und vor uns erstreckte sich ein gewaltiger Hang aus Sand. Wir kletterten diesen Hang hoch, rutschten aber immer wieder aus. Als wir mit Sand in den Schuhen oben ankamen, erreichten wir den Felsen. Nun galt es, den Felsen wie ein Bergsteiger hochzuklettern und sich dabei möglichst nicht zu verletzen. Wir hatten alle zu kämpfen, da wir schon so lange bergauf gegangen waren. Bis zum Schluss glaubte ich nicht daran, dass wir es schaffen würden.

 

Doch wir hielten durch und als wir mit unseren Kräften fast am Ende waren, waren wir oben. Wir konnten eine gewaltige Aussicht auf die ecuadorianische Bergwelt geniessen und Beweisfotos machen. Nach etwa 15 Minuten begannen wir mit dem Abstieg und begegneten den anderen Freiwilligen, die sich noch immer auf dem Aufstieg befanden.

Das Runtergehen war einiges angenehmer, doch es beanspruchte noch einmal zwei Stunden. Als wir schliesslich unten waren, waren wir alle todmüde, aber sehr stolz, dass wir durchgehalten hatten.

 

Mein Gastbruder Alejo hatte mir angeboten, mich nach der Wanderung bei der Talstation der Gondelbahn abzuholen. Ich hatte ihm versichert, ihn anzurufen, sobald wir vom Berg zurückkehrten. Als wir unten waren, stellte ich jedoch mit Schrecken fest, dass mein Handy kein Akku mehr hatte. Ich machte mir grosse Sorgen, weil ich Alejo nicht benachrichtigen konnte. Bernardo, der ebenfalls dabei war, riet mir, mit dem Bus nach Hause zu fahren. Er kam mit mir ein Stück, doch irgendwann trennten sich unsere Wege. Mir war gar nicht wohl, da es am Äquator jeden Abend um sechs Uhr stockdunkel wird und es bereits sieben Uhr war. In der Schweiz wurde mir oft genug eingeschärft, in Südamerika niemals nachts alleine unterwegs zu sein. Ich wusste auch nicht, wie meine Gastfamilie reagiert, wenn sie mich nicht erreichen kann und ich irgendwann mit gewaltiger Verspätung zu Hause ankomme.

 

Ich war froh, Bernardo von meinen Sorgen erzählen zu können. Er meinte, ich solle mich in die Nähe des Busfahrers stellen und einen selbstbewussten Gesichtsausdruck aufsetzen. Ich sei schliesslich eine starke, unabhängige Frau. Doch bin ich das wirklich? In der Nacht, alleine in einer Stadt wie Quito, mit einem Handy ohne Akku?

 

Ich hatte Angst, versuchte mir aber nichts anmerken zu lassen. Den ersten Bus konnte ich ohne Probleme nehmen, doch der zweite kam und kam nicht. Ich wurde plötzlich unsicher, ob dieser Bus um diese Zeit überhaupt noch fährt. Schliesslich entschied ich mich, ein Taxi zu nehmen. Dies kostete mich 20 Dollar, was in der Schweiz zwar wenig, in Ecuador jedoch viel ist.

 

Als ich zu Hause ankam, hatte ich kein gutes Gefühl und war auf jede Reaktion meiner Gastfamilie gefasst. Ich entschuldigte mich bei meiner Gastmutter und bei Alejo, doch beide reagierten alles andere als verärgert. Sie waren einfach nur froh, dass es mir gut ging und sie sagten, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich war sehr froh über ihre Reaktion und vor allem darüber, heil zu Hause angekommen zu sein.

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