Eine Woche im Urwald bei den Kichwa - Indianern

Amazonas
I can hear you calling
 like a stranger I am rolling home.
 [...]
Amazonas
when the night is falling
I start dreaming of the land I've known.

[...]

Lazy river
oh
how much I missed you
 in the desert of the neon-light.
I know some day I'll be staying with you. 

(Aus "Amazonas", Songtext von Peter, Sue & Marc)

Ich habe eine unglaubliche Woche hinter mir! Wenn man mir vor einigen Jahren gesagt hätte, dass ich die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr einmal im Regenwald bei einer Kiwcha-Familie verbringen würde, hätte ich wohl ziemlich verwirrt dreingeblickt.

 

Genau dies ist wohl das interessante am Leben. Aus einer Busbekanntschaft mit einem jungen Ecuadorianer wurde Freundschaft und durch ihn bekam ich die Chance, eine Kultur kennenzulernen, die mich so sehr interessiert und fasziniert. Die Kiwchas (auch Indigenas) sind die Ureinwohner Ecuadors und leben noch heute in Dörfern der Anden (vor allem in Otavalo) sowie im Amazonas. Mit der Eroberung durch die Spanier vermischte sich das Europäische biologisch wie kulturell mit dem Indigenen und es entstand eine neue Bevölkerungsgruppe, die Mestizen, die heute die Mehrheit der ecuadorianischen Bevölkerung ausmachen. Noch heute ist die Gesellschaft Ecuadors durch ein Klassensystem geprägt, in dem die Indigenas zusammen mit den Afroecuadorianern (Nachfahren der importierten Sklaven aus Afrika) die Unterschicht ausmachen. Von Seiten der Mestizen gab es lange die Vorstellung, dass die Indigenas ausgebeutete arme Landmenschen sind, die seit 500 Jahren in einem Stadium der Unterentwicklung am Rande der Zivilisation vor sich hin vegetieren. Ab Anfang der 1990er Jahre fand jedoch eine starke soziale Bewegung der Indigenas statt. An vielen Orten erwachten sie aus der Opferrolle und der Stolz auf die eigenen Wurzeln und Traditionen wuchs wieder.

 

(Dies alles ist sehr vereinfacht erklärt und hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Quelle: Buch "Kulturschock Ecuador", Verlag Reise-Knowhow)

Mein ecuadorianischer Kolleg V. ist in Tena, einer Stadt mitten im Amazonas, die nicht grösser als mein Heimatdorf Grüningen ist, aufgewachsen. Heute wohnt und studiert er in Quito. Seine Eltern sind mehr oder weniger reine Kiwchas, wie er sagt, und leben noch immer in Tena. In den Ferien geht V. jeweils nach Hause und ich durfte nach Weihnachten eine Woche mit ihm und seiner Familie verbringen. V. war bereits drei Tage länger dort als ich und ich reiste ihm nach. Es war das erste Mal, dass ich eine solch lange Strecke alleine reiste, doch ich fühlte mich sicher. Da es in Ecuador keine Busfahrpläne gibt, musste ich mich einige Male durchfragen. Die Menschen sind aber im Allgemeinen sehr hilfsbereit uns so erreichte ich Tena nach etwas mehr als vier Stunden.

Ich wurde sehr herzlich empfangen und gehörte sofort zur Familie. Es waren noch drei Cousinen von V. sowie eine seiner Schwestern dort, die kurz nach meiner Ankunft mit mir in einem Fluss schwimmen gehen wollten. Da realisierte ich, dass ich komplett die falschen Kleider eingepackt hatte. In Quito laufe ich immer mit langen Hosen und je nach Wetter mit Pullover rum. Irgendwie hatte ich nicht realisiert, dass es in den Tropen heiss ist und ich dachte sowieso, lange Hosen seien wegen den vielen Insekten notwendig. Doch so ist es nicht! Es gibt in Tena zwar viele Mücken, jedoch nur harmlose. So ging ich mit den Kleidern schwimmen und lieh mir Shorts von V. Es war mir egal, seit ich in Ecuador bin, bin ich nicht mehr so eitel. Das Schwimmen im Fluss war sehr erfrischend und ich fühlte mich wie im Paradies. Tena ist ein Ort, an dem kleine Kinder bei Sonnenuntergang im Fluss spielen und die Welt noch in Ordnung ist. Ich hatte den Eindruck, dass die Kinder im Amazonas allgemein eine sehr glückliche Kindheit inmitten der Natur erleben, wie auch V. von sich sagt.

Am nächsten Tag ging V. mit mir seine Grosseltern besuchen. Sie leben in einer Hütte noch tiefer im Urwald. V. meinte, er wolle dort zusammen mit mir ein traditionelles Kiwcha-Gericht kochen. Dafür kauften wir in Tena lebendige Fische und nahmen sie in einem Plastiksack mit. Ich fand es gleichzeitig lustig und seltsam, dass die Fische während der gesamten Busfahrt zappelten. V. erklärte mir, es sei das Beste, lebendige Fische zu kaufen. So würden alle Nährstoffe erhalten bleiben und es gäbe keine Chemie im Essen. In der Hütte seiner Grosseltern mussten wir die Fische dann zuerst töten und ausnehmen. Danach wurden sie in spezielle Blätter aus dem Urwald eingewickelt und über dem Feuer gebraten. Währenddessen tranken wir ein traditionelles Getränk aus Mais und Wasser. Ich war sehr beeindruckt vom grossen kulturellen und kulinarischen Wissen von V.

Zu den Fischen assen wir Yucca und gekochte Bananen. Sehr beeindruckend finde ich, dass die Kichwas alles vom Fisch essen, auch den Kopf und die Augen. Ihre Ideologie ist, dass die Natur einem zu Essen gibt und man die Natur nicht respektiert, wenn man Fleisch- oder Fischreste übriglässt. Auch ich bin absolut der Meinung, dass man alles essen soll, wenn man ein Tier tötet. Dennoch musste ich mich überwinden, das Hirn, die Augen und das Herz in den Mund zu nehmen. Es ist eigentlich tragisch, dass wir im Europa meist nur gewisse Teile des Tieres essen und bei einigen Körperteilen die Nase rümpfen.

 

V.'s Grossmutter spricht nur Kiwcha, kein Spanisch. V. hat diese indigene Sprache von ihr gelernt, da er als Kind jeweils seine Ferien bei ihr verbracht hat. Für mich war es irgendwie seltsam, kein Wort zu verstehen als die beiden miteinander sprachen, aber ich fand es wahnsinnig interessant. Kiwcha hat nichts mit Spanisch, geschweige denn mit einer anderen Sprache zu tun, die mir vertraut ist. Später versuchte ich die Zahlen von 1-10 auf Kiwcha zu lernen, doch ich scheiterte bereits an der Aussprache.

Nach dem Essen spazierten V. und ich ein Stück in den Regenwald hinein. V. kennt jede Pflanze und jede Frucht und erklärte mir alles. Ich wusste nicht, dass man das Fleisch der Kakaofrucht auch roh essen kann. Wenn man in Ecuador jemandem sagt, die Schweiz sei für Schokolade bekannt, heisst es immer sofort: "Aaaber der Kakao kommt von uns!!!" Nun habe ich mit eigenen Augen gesehen, wo der Kakao wächst. V. fand irgendwann, er habe jetzt Lust auf eine Orange. Er zog sich an einem hohen Baum hoch und kletterte tief in die Äste. Ich hatte ehrlich gesagt ein bisschen ein mulmiges Gefühl, doch V. hatte dies wahrscheinlich bereits als Kind gemacht. Oben füllte er seinen Rucksack und kam schliesslich heil wieder auf dem Boden an. Die Orangen waren so süss, wie ich sie selten gegessen hatte.

Unten links: Die Kakao-Frucht, unten rechts: Eine Ananas (Leider schlecht erkennbar)

Auf dem Heimweg gingen wir noch in einen Park. Auch dort fühlte ich mich wie im Paradies! Zwischen den Bäumen kletterten Affen umher und Menschen badeten im Fluss.

Wann immer möglich gingen wir in dieser Woche raus in die Natur, badeten im Fluss oder spazierten durch den Wald. Im Amazonas gibt es jedoch immer wieder heftige Regenfälle, so gab es auch Tage, an denen wir nicht viel unternehmen konnten. Dann blieben wir im Haus und vertrieben uns die Zeit mit einem Film. V. zeigte mir noch mehr traditionelle Köstlichkeiten wie ein Getränk aus süssen Bananen. Trinkt man zwei Tassen davon, fühlt man sich, als habe man gegessen. Ich versuchte mir alles zu merken, um zurück in Quito das eine oder andere nachkochen zu können.

Als das Wetter wieder besser wurde, machten wir uns auf den Weg zu einem Wasserfall, um zu baden. Bis vor einem Jahr war der Ort ein Geheimtipp gewesen, doch nun befindet sich dort sogar eine Umkleidekabine und Stricke, um an den Felsen rund ums Wasser hochzuklettern.

Auf dem Rückweg erfuhr ich von V., dass im Regenwald rund um Tena seit mehr als 40 Jahren keine Tiere mehr leben. Auch in den weiter entfernten Wäldern wird leider noch immer gewildert, weit mehr als die Menschen essen können. Das Fleisch der Tiere wird verkauft und vom Erlös kaufen sich die Urwaldbewohner Alkohol und Chips. Eine Entwicklung, die auch V. Sorgen bereitet. Ich war froh, endlich mal mit jemandem tiefgründige Gespräche zu diesem Thema führen zu können. Nie hätte ich gedacht, einmal  einen Experten in Sachen Regenwald vor mir zu haben. V. hat sogar ein Projekt gegründet, um in Zusammenarbeit mit den Ureinwohnern Touren für Touristen im Regenwald anzubieten. Damit will er erreichen, dass die Menschen im Amazonas vom Tourismus leben können und keine Tiere mehr schiessen.

Einen Tag vor Sylvester reisten zwei von V.'s Cousins mit Frau und Kindern an und übernachteten ebenfalls im Haus seiner Eltern. Die Kiwcha-Familien sind alle wahnsinnig gross, fünf Kinder sind das Minimum. Ich fragte V. wie viele Cousins und Cousinen er habe. Daraufhin begann er zu zählen und kam auf 40 (!).(Zum Vergleich: Ich selbst habe gerade mal 4 Cousins) 

Auch die beiden Cousins erzählten mir stolz, sie seien Kichwas. Immer wieder switchten sie zwischen Spanisch und Kichwa hin und her.

In ganz Ecuador ist es Tradition, dass sich an Sylvester die Männer als Frauen verkleiden und so auf die Strasse gehen, um Geld zu erbetteln, das sie danach in Bier investieren. V. kann mit diesem Brauch nicht viel anfangen und so  trafen wir uns stattdessen mit weiteren Verwandten zum Fussballspielen. Anscheinend ist es in Ecuador ebenfalls üblich, an Sylvester gemeinsam Sport zu treiben. Danach gab es noch ein traditionelles Kichwa-Essen, diesmal jedoch ausnahmsweise mit Reis. Die Kichwas kennen ursprünglich kein Besteck, sie essen mit den Händen. Ich fand es lustig, aber auch schwierig, einen Teller Reis mit den Fingern zu essen. Am frühen Abend verliessen V. und ich das Familientreffen und machten uns auf den Weg zurück nach Tena. Es kam kein Bus und die Taxis, die vorbei fuhren, waren alle bereits voll. Irgendwann schafften wir es aber trotzdem, ein Taxi anzuhalten. Die Sitzplätze waren bereits besetzt, es hatte nur noch Platz hinten auf der Ladefläche. So kletterten V. und ich auf die ungeschützte Ladefläche und hielten uns fest, während das Taxi durch die Nacht raste. Ich verspürte gleichzeitig Angst und ein Gefühl von Freiheit. Eigentlich war es ein einziges Abenteuer. Als der Fahrer schliesslich zur Autobahn einbog, wurde es noch intensiver. Schlussendlich hatten wir die Fahrt überlebt, drückten dem Fahrer den normalen Fahrpreis in die Hand und spazierten durch die Stadt zurück zum Haus von V.'s Eltern. Noch immer waren verkleidete Männer auf den Strassen zu sehen, aber auch lebensgrosse Puppen standen bereit. In Ecuador werden an Sylvester Persönlichkeiten in Form von Puppen nachgebaut, die unter dem Jahr negative Schlagzeilen gemacht haben. Um Mitternacht werden diese Puppen dann verbrannt. Komischerweise fühlt sich dadurch niemand angegriffen, auch nicht wenn ein Abbild des Präsidenten verbrannt wird.

Am 1. Januar 2017 packte ich voller Dankbarkeit meinen Rucksack. V.'s Vater fragte mich, wann ich wiederkomme. Schlussendlich meinte er: "Pass auf dich auf - .... und vergiss den Regenwald nicht!"

Nein, das werde ich nicht. Ganz bestimmt nicht. Alle waren so wahnsinnig herzlich und gastfreundlich zu mir gewesen! Es ist erstaunlich, wie viel man in einer einzigen Woche erleben kann! Als V. mich zum Busterminal brachte, hatte ich ein Zitat im Kopf, das ich vor langer Zeit einmal gelesen hatte:

Ich finde, die Idee, dass wir bereichert von einem Ort zurückkehren, ist die beste Betrachtungsweise des Reisens.

(Alain de Botton)

Ich glaube, besser kann man es nicht ausdrücken. Danke!!!!

 

PS: Hier noch ein bekanntes Kichwa-Lied. (Mit Spanischen Untertiteln) Während des Familientreffens an Sylvester lief es andauernd im Hintergrund:

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