Unterwegs mit einer Sozialarbeiterin

Ich hab’ so viele Dinge, viel mehr als ich eigentlich ertrage. Ich hab’ so viel Klamotten und Schmuck und Gedöns, viel mehr als ich eigentlich trage. Ich hab’ ein Einrad und ein Skateboard, das ich eigentlich nicht fahre. [...] Und ich hab’ Freunde und Träume, meine Stimme und Sinne. Ich hab’ so viele Ideen, ich hab’ so viel zu geben, ich hab’ so viel zu erleben, so viel zu erleben. [...]  Ich hab’ meine Meinung, Gefühle und Werte und Zeit und ich hab’ Vertrauen. Vertrauen darin, dass Zeit Wunden heilt und Vertrauen in mich. Vertrauen darin, dass alles gut wird und in das Leben an sich und ich hab’ mein Leben, das endlich ist und nicht selbstverständlich ist. Vielleicht nur eine Seele, die ewig beständig ist, auch wenn der Gedanke daran für mich sehr befremdlich ist und ich hab’ noch was, das vergess’ oft, dann muss ich mich neu besinnen, ich hab’ nicht und nichts zu verlieren, sondern so viel zu gewinnen. Ich hab’ tausend Gründe zum Lachen und bloß einen zum Weinen und vor allem habe ich einen Grund glücklich zu sein.

(Julia Engelmann in "Bestandsaufnahme in drei Teilen")

Da die Mitarbeiter in meinem Projekt wissen, dass ich nach meiner Rückkehr aus Ecuador Soziale Arbeit studieren möchte, darf ich jeden Donnerstag mit einer Sozialarbeiterin mitgehen, wenn sie ausser Haus geht. Die letzten beiden Male waren nicht so interessant, wir mussten bei verschiedenen Büros Papiere für ein Kind abholen, das die Schule wechseln wird. Den Tag verbrachten wir vor allem mit Bus fahren, da die

Distanzen in Quito riesig sind. Dann mussten wir in den Büros auch noch stundenlang warten, weil die ecuadorianische Bürokratie nicht die Schnellste ist.

 

Jetzt ist der Papierkram zum Glück erledigt und heute gingen wir auf Hausbesuch bei der Mutter eines Kindes, das die Schule der Salesianer besucht. Dafür fuhren wir mit dem Bus in den Süden von Quito. Ich war auf alles gefasst, da die Kinder von "Chicos de la calle" alle aus sehr armen Verhältnissen stammen. Als wir den Bus verliessen, waren wir in "the middle of nowhere", in einer Gegend, in der es nur Hänge und Feldwege gab. Wir mussten ein Stück zu Fuss gehen und um uns herum weideten Kühe, Ziegen und Hühner. Auf den Wiesen hatte es alle paar Meter Barracken und Steinhäuser, in denen Menschen wohnten. Für mich sah es eher aus wie ein riesiger Schrebergarten mit Gartenhäuschen. Nach etwa einer halben Stunde Fussmarsch waren wir am Ziel. Doch das "Haus" der Familie war kein Haus, sondern eine Garage.

 

Als wir zur Tür des niedrigen Betongebäudes hineingingen, stand ein kleiner Junge in Schuluniform im Eingang und streckte mir einen winzigen Golden Retriever-Welpen entgegen.

Die "Wohnung" war ein einziger Raum aus Beton mit einer niedrigen Decke. Von der Decke und von den Wänden hingen Gummirohre. Am Eingang standen drei Polstersessel und ein Fernseher, der permanent lief. Dahinter ohne Abtrennung ein Esstisch, ein Herd und drei Betten. Nur eines der drei Betten hatte eine Matratze, auf den anderen zwei Bettgestellen lagen zerknüllte Kleider. 

 

Die Sozialarbeiterin musste verschiedene Papiere ausfüllen und stellte der Mutter Fragen. Dabei stellte sich heraus, dass weder die Mutter noch ihr Mann eine weiterführende Schulbildung hatten, beide hatten nur die Primarschule besucht.

Nachdem wir uns von der Mutter verabschiedet hatten, fuhren die Sozialarbeiterin und ich nochmals ein Stück mit dem Bus und trafen einen Erzieher, der im "Golaso" arbeitet. Das "Golaso" (zu Deutsch: Fussballtor) gehört ebenfalls zum Programm "Chicos de la calle" und ist eine Fussballschule für Strassenkinder in Quito. Dort wird in den Kindern mit Hilfe von Fussball Begeisterung und Initiative für ein besseres Leben geweckt. Neben Spass und Bewegung lernen die Kinder dank Fussball auch das Befolgen von Regeln sowie den respektvollen Umgang mit anderen Menschen. In erster Linie dient das Programm aber dazu, die Kinder wieder in die Schule und in ihre Familie zu integrieren. Deshalb verpflichtet sich jedes Kind der Golaso-Fussballschule, eine staatlich anerkannte Schule zu besuchen und einen formellen Schulabschluss zu erwerben.

 

Die Sozialarbeiterin und ich trafen also auf den Erzieher und ein Kind mit seinen Eltern. Ich kannte die Vorgeschichte nicht und ich verstand auch nicht alles, weil sie ein sehr schnelles Spanisch redeten. Doch ich glaube es ging darum, dass das Kind keine Motivation hat, die Schule zu besuchen und zu lernen. Der Erzieher erklärte der Mutter immer wieder, dass er dem Jungen zwar die Chance auf ein besseres Leben bieten könne, der Junge aber selber lernen müsse. Dies könne ihm niemand abnehmen.

 

Als ich Feierabend hatte und nach Hause ging, war ich in komischer Stimmung. Irgendwie fühlte ich mich schuldig, nun in die saubere, grossräumige Villa meiner Gastfamilie zurückzukehren, nachdem ich diese Armut gesehen hatte.

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